Nachdem im März diesen Jahres die zweite sogenannte Lancet-Studie publiziert worden war, wurde diese von zahlreichen Medien zum Anlass genommen, Sinn und Zweck eines regulierten Cannabis-Marktes infrage zustellen. Denn die neuen Indoor-Züchtungen seien aufgrund ihres hohen THC-Gehalts besonders gefährlich, weil diese laut der Studie viel eher Psychosen auslösen können als schwächeres Cannabis. Die Grenze, was starkes und was schwächeres Cannabis ist, wurde von den Forschern jedoch sehr unscharf definiert. Die aktuellen Erkenntnisse bestätigen weitestgehend jene der ersten Lancet-Studie, die 2015 publiziert wurde. Damals wie heute hatten die Forscher im Rahmen ihrer Meta-Studie festgestellt, dass Psychosen in Gegeneden, in denen Cannabis mit einem THC-Gehalt von über zehn Prozent verbreitet sei, häufiger vorkämen als dort, wo das Schwarzmarkt-Cannabis schwächer sei.
Die Forschergruppe bezeichnete Sorten, von denen sie annahm, der THC-Gehalt läge über zehn Prozent, als „Skunk“. Dabei wurden weder der genaue THC-Gehalt noch das Cananbinoid- sowie Terpen-Profil bestimmt. Für die aktuelle Studie werteten die Wissenschaftler zwischen dem 1. Mai 2010 und dem 1. April 2015 Daten von 901 Patienten mit Psychosen aus 11 Städten sowie Daten von 1237 gesunden Teilnehmenden aus denselben Orten aus. Dabei gaben knapp 30 Prozent der Befragten mit Psychose an, jeden Tag Cannabis zu konsumieren. In der gesunden Kontrollgruppe waren es nur knapp sieben Prozent. Deshalb sei täglicher Cannabiskonsum mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer psychotischen Störung im Vergleich zu Nichtkonsumenten verbunden.
Ohne Rücksicht auf neuere Erkenntnisse
Vorausgesetzt, die Forscher haben die herangezogenen Daten gewissenhaft ausgewertet, bleiben entscheidenden Fragen offen. Wie stark war das Cannabis wirklich? Wieso wurde das THC-CBD Verhältnis nicht berücksichtigt? Wieso wurde nicht zwischen purem Cannabis und einem Cannabis-Tabak Gemisch unterschieden? In anderen Studien, die auch von Lancet veröffentlicht wurden, wird festgestellt, dass auch Tabak über ein Psychose auslösendes Potential verfügt.
Außerdem sind seit der ersten Lancet-Studie bereits einige Jahre vergangen. In dieser Zeit hat die Cannabis-Forschung große Fortschritte gemacht, die jedoch in der 2019er Lancet-Studie nicht berücksichtigt wurden. So hat das renommierte Kings College in London 2013 zum Beispiel in einer Studie nachgewiesen, dass nicht der THC-Gehalt, sondern das THC-CBD Verhältnis einen entscheidenden Einfluss darauf habe, wie wahrscheinlich Cannabiskonsum Psychosen triggere. Zudem wurde die Anti-psychotische Wirkung von CBD bereits in vielen anderen Studien nachgewiesen.
Die Lancet-Forscher waren sich der neuen Erkenntnisse durchaus bewusst, haben aber darauf verzichtet, sich neben dem geschätzten THC-Gehalt mit dem CBD-Gehalt zu befassen. Die Studie zeigt vor allen Dingen, dass es kaum möglich ist, seriös an einer auf dem Schwarzmarkt erworbenen, ungetesteten Substanz zu forschen. Denn weder Ärzte noch Patienten können wissen, was genau Ursache eines Problems ist – solange deren Auslöser nicht genau analysiert wird.
Cannabis = Placebo ?
Eine andere brandneue Studie, die von der australischen Regierung in Auftrag gegeben und kürzlich auch im Lancet Journal of Psychiatry publiziert wurde, stellt die Wirksamkeit von Cannabis bei psychischen Störungen grundsätzlich infrage. Hier hatten die Forscher 83 Studien mit 3.000 Teilnehmern zu Cannabis bei Depressionen, Angststörungen, ADHS, Psychosen, posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) und Tourette-Syndrom ausgewertet. Mit Ausnahme einer Symptombesserung bei Angststörungen lasse sich aus den untersuchten Studien nicht schließen, dass die Wirkung von Arzneien auf Cannabis-Basis mehr als einen Placeboeffekt aufwiesen, heißt es in der abschließenden Zusammenfassung.
Doch auch für diese Analyse wurden eben jene Daten verwendet, die auch die sogenannte Lancet-Studie als Grundlage genommen hatte. Die Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover und Cannabinoid-Spezilaistin Professor Dr. Kirsten Müller-Vahl kommentiert die Ergebnisse dann auch ganz anders als ihre australischen Kollegen und die meisten Medien:
„Dass diese umfangreiche Analyse gemacht wurde, finde ich sehr gut. Ich sehe aber auch die Gefahr, dass die subjektive Perspektive der Autoren – auch in Metaanalysen ist die Wertung der Daten immer subjektiv – übersehen wird. Tatsächlich zeigen die Autoren auf, dass die Datenlage sehr dünn ist. Ich fürchte allerdings, dass das so gelesen und verstanden wird, als ob Cannabinoide nicht wirken”,
so Müller-Vahl auf dem Medizinportal Medscape.
Ein schiefes Fundament als schlechte Ausgangslage
Die Lancet-Studie ist eine der meist zitierten Studien zu Cannabis weltweit und dient als Grundlage vieler anderer, wissenschaftlicher Arbeiten. Doch wie bei so vielen Studien handelt es sich auch bei der Lancet-Studie um eine Meta-Studie oder Metaanalyse, die die Zahlen anderer Studien oder Erhebungen auswertet und versucht, deren Ergebnisse zusammenzufassen und daraus neue Erkenntnisse abzuleiten. Aber bei der Cannabis-Forschung fehlt es vor allen Dingen an klinischen Studien. Die sind aufwendiger und teurer als Metaanalysen, bilden jedoch die Grundlage für solche Meta-Studien wie die Lancet-Studie. Gibt es davon zu wenige, verfügen Metaanalysen wie Lancet über schlechtes oder zu wenig Datenmaterial – so wie es beim THC- und Cannabinoidgehalt der Fall ist. Wird eine solche Metaanalyse dann wiederum als Datenbasis für eine neue Studie genommen, können deren Ergebnisse noch unschärfer werden. Genau das hat Prof. Dr. Müller-Vahl im oben erwähnten Fall der „Placebo-Studie“ kritisiert.
Nun sollte man meinen, dass mit der Legalisierung von Cannabis als Medizin auch die Zahl der klinischen Studien in die Höhe schnellt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Während es seit 15 Jahren immer mehr Metaanalysen über Cannabis und Cannabinoide gibt, ist die Zahl der klinischen Studien seit 2015 wieder leicht rückläufig. So gab es australischen Forschern der Universität Sydney zufolge 2017 nur rund 80 klinische Studien zu Cannabis, während die Zahl der Metanalysen im selben Jahr schon bei über 300 lag. Das heißt im Umkehrschluss, dass es zur Zeit immer mehr relativ kostengünstige Meta-Studien geben muss, die sich mit den wenigen existierenden klinischen Studien zu Cannabis beschäftigen. Gleichzeitig wird die teure, klinische Forschung an sich vernachlässigt, indem die Zahl klinischer Studien fast stagniert und aktuell sogar leicht rückläufig ist. Deshalb sollte man in Zukunft ein wenig genauer hinschauen, wenn wieder einmal von einer neuen Studie zu Cannabis die Rede ist. Die deutschen Begleitstudie zur Verwendung von medizinischem Cannabis ist übrigens auch keine der dringend benötigten, klinischen Studien. Eine solche ist in Deutschland bis heute nie in Auftrag gegeben worden.
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